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Das Feuer entzündet sich langsam, beinahe ehrfürchtig. Der junge Schamane sitzt schweigend vor mir, ordnete zuvor geduldig unzählige Kerzen in einem bunten Kreis. Mit einer Mischung aus Mais, Blumen, Tabak, Kerzen und Zucker erschafft er ein Symbolbild des Kosmos – ein Feuer, das alles reinigt, was man bereit ist loszulassen und Schutz verspricht, insbesondere für Reisende. Langsam erstreckt sich die Flamme über die ersten Dochte, das Feuer beginnt zu tanzen. Jede Farbe der Kerzen steht für einen Lebensbereich: Gesundheit, Familie, Ahnen, Schutz.

Eine Begegnung mit Maya-Spiritualität

Ich bin in San Pedro La Laguna am Atitlán-See in Guatemala in einem offenen Innenhof ganz in der Nähe meiner Gastfamilie. Gebucht habe ich sie über Guatemaya Travel, einem lokalen Anbieter. Der Schamane wirkt jünger als ich, doch in seiner ruhigen, geerdeten Art liegt eine Vertrautheit mit dieser jahrhundertealten Praxis, die mich sofort beeindruckt. Er spricht während der ganzen Zeremonie Tz’utujil, eine der 22 Maya-Sprachen Guatemalas, die hier rund um den See noch täglich gesprochen wird. Obwohl ich fliessend Spanisch spreche, verstehe ich ihn kaum.

Vor dem Ritual hat er meinen Nahual berechnet, den spirituellen Begleiter, den mir laut Maya-Kalender mein Geburtsdatum mitgegeben hat. Es ist der Tz’i’ – der Hund. „Du bist hier, um für Gerechtigkeit zu sorgen. Ein Beruf wie Anwältin oder Journalistin passt gut zu dir“, sagt er ruhig. Ich halte kurz inne. Woher weiss er, dass ich Journalistin bin? Natürlich weiss er es nicht. Und doch fühlt sich seine Aussage wie ein Spiegel an – sanft, aber klar. Nach der Zeremonie erzählt er mir stolz, dass er in einer kommenden Netflix-Dokumentation über Maya-Spiritualität auftreten wird. Ich lächle und glaube ihm jedes Wort.

Zwischen Wellblech und Wunder

San Pedro ist kein Postkartenidyll. Viele Häuser bestehen aus Wellblech, haben keinen festen Boden. In mancher Hütte schlafen Menschen in Hängematten, Kinder machen Hausaufgaben auf dem Erdboden. Und trotzdem: Es fehlt nicht an Liebe. An Leben. An Musik. Wer hierher reist, sollte lokal unterwegs sein. Bei Familien wohnen, in kleinen Tiendas einkaufen, an lokalen Touren teilnehmen. So taucht man nicht nur tief in die Kultur ein, sondern unterstützt Einheimische auch finanziell.

In San Pedro La Laguna lebe ich mit meiner Schwester bei einer einheimischen Familie – Florinda, Alberto und ihren drei Kindern. Auch Florindas Mutter lebt zeitweise bei ihnen, denn Altersheime kennt man hier kaum. Die drei Kinder studieren und kommen meist nur am Wochenende nach Hause. Die Familie ist liebevoll, neugierig, herzlich. Alberto bringt uns Tz’utujil bei, mit viel Geduld und Humor. „Ut’z! – Es ist gut!“, ruft er. „Chjonte’ – danke.“ Einige Laute klingen, als wolle man rülpsen, es sich aber dann anders überlegen. Wir lachen viel.

Tortillas, Tamales und tiefe Gespräche

Florinda ist eine leidenschaftliche Köchin. Zum Frühstück überrascht sie uns mit Pancakes oder French Toast, mittags gibt es deftige Teller mit Reis, Fleisch, Gemüse – und immer frische Tortillas. Abends dann Tamales in drei Sorten. „Viele Familien haben hier kein Geld für richtiges Essen“, sagt sie einmal, „aber für Tortillas reicht es immer.“ Essen ist hier viel mehr als Nahrungsaufnahme. Es ist Fürsorge, Stolz und ein stilles Band zwischen Generationen.

Was ich am Webstuhl über Guatemala lerne

Einige Tage nach dem Feuerritual erzählt uns Florinda von einem Webkurs eines Frauenkollektivs in der Nachbarschaft. Sie spricht mit solcher Begeisterung darüber, dass wir uns sofort anmelden. Drei Stunden später halte ich ein winziges Gewebe in der Hand: schief, unregelmässig, aber handgemacht. Ich schenke es dem Babykätzchen der Familie, das ich Donald nenne. Irgendetwas an seiner orangen Fellfarbe erinnerte mich an einen ziemlich bekannten Namensvetter. Vielleicht errätst du ja selbst, an wen.

Das Webstück meiner Schwester wird fast genauso klein. Aber wir beide begreifen: Was hier auf den Webstühlen entsteht, ist nicht nur Stoff. Es ist Identität, Geschichte, Widerstand. Unsere Lehrerin erzählt, dass sie nie zur Schule durfte. „Frauen müssen arbeiten“, sagte ihr Vater. Heute ernährt sie ihre Familie mit ihrer Kunst. Eine traditionelle Maya-Kleidung, wie ich sie später bei der Hochzeit tragen darf, kostet rund 250 Schweizer Franken – beinahe so viel wie der monatliche Mindestlohn in Guatemala.

Laut Weltbank lebt mehr als die Hälfte der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Der monatliche Mindestlohn liegt bei etwa 335 Schweizer Franken. Gleichzeitig stammen rund 20 % des Bruttoinlandprodukts aus Geldüberweisungen von Guatemalteken, die im Ausland arbeiten. Viele Familien leben von diesem Geld. 

Einladung ohne Einladungskarte

Eines Morgens erzählt uns Florinda von einer Hochzeit. „Wenn ihr noch eine Woche bleibt, könnt ihr mitkommen – mein Cousin heiratet in San Juan.“ Meine Schwester und ich sind uns einig: Das können wir uns nicht entgehen lassen! Für mich wird es tatsächlich die erste Hochzeit als Gästin, zuvor hatte ich lediglich für TV und Zeitungen als Videojournalistin über spezielle Hochzeiten berichtet. 

Bis zum Hochzeitstag kennen wir weder Braut noch Bräutigam. Trotzdem sind wir eingeladen – ohne Frage, ohne Formalitäten, einfach so. “Ihr seid meine Töchter und gehört zur Familie”, begründet Florinda und verrät uns auch die Namen des Brautpaars: Jessica und David. Geschenke zu finden wird zur Odyssee. Florinda meint, etwas für den Haushalt sei üblich. Wir finden nur dank ihrer Hilfe ein Geschäft, welches Küchenutensilien verkauft und entscheiden uns für zwei Tassen mit Maismotiv (Mais gilt in der Maya-Kultur als Ursprung des Lebens), dazu zwei Schüsseln und eine Toblerone. Die Schüsseln passen nicht in die Tüte, aber wir machen es irgendwie passend. Florinda nimmt sie kurzerhand in ihre Handtasche.

Tradition in Stoff und Gesten

Am Hochzeitstag, zusätzlich auch gleich Muttertag, hilft mir Florinda beim Anziehen der traditionellen Festtracht. Jeder Handgriff sitzt, das Muster stammt aus dem Dorf der Braut. “Wir mögen es sehr, wenn Ausländerinnen und Ausländer unsere Kleidung tragen”, erwidert Florinda strahlend. Kultureller Aneignung sei das in ihren Augen nicht, sondern vielmehr ein Zeichen, dass jemand tief in die guatemaltekische eintauchen wolle.

Janina am Hochzeitstag in der traditionellen Maya-Kleidung.

In der Kirche des benachbarten Dort San Juan dauert die Zeremonie zwei Stunden. Kein Kuss. Kein weisses Kleid. Die Braut ist hinten verschleiert,  ein Zeichen, dass sie bereits Kinder hat. Hier ist das kein Makel, sondern eine gelebte Realität.

Feiern mit 150 Gästen – und Hühnern in der Handtasche

Die Feier findet im Fussballstadion von San Juan statt. 150 Menschen sitzen an gedeckten Tischen, ständig werden neue Plastikstühle herangetragen. Ich stolpere über ein Tischbein, verschütte Agua de Jamaica, das weisse Tischtuch ist plötzlich violett. Niemand sagt etwas. Stattdessen wird mir nachgeschenkt.

Es gibt Hühnchen, Reissuppe, Kohl und Tamales. Ich erfahre, dass der Bräutigam traditionell der Familie der Braut zehn Hühner, Tamales und weitere Lebensmittel schenkt, als Beitrag zur Hochzeit.

Plötzlich beobachte ich, wie Frauen gekochtes Hühnchen in Handtaschen packen, statt es sofort zu essen. Zuerst war ich erstaunt und ehrlich gesagt etwas irritiert. Doch nur weil etwas anders ist, sollte man nicht gleich urteilen. Ich habe recherchiert und gelernt: Das Essen wird oft mit nach Hause genommen, um es später mit der Familie zu teilen oder als Zeichen des Respekts für ältere Angehörige aufzubewahren. Und das ist nicht nur geduldet, sondern ausdrücklich im Sinne des Hochzeitspaares, das mit den Speisen symbolisch für die ganze erweiterte Familie sorgt, auch für die, die nicht persönlich dabei sein konnten. In einer Kultur, in der Grossfamilien eng verbunden sind, ist Teilen nicht Ausnahme, sondern Selbstverständlichkeit.

Was bleibt?

Vielleicht Donald, zusammengerollt auf meinem ersten Webstück. Vielleicht der violette Fleck auf dem Tischtuch. Vielleicht die Erinnerungen an die Hochzeit. Vielleicht auch Florindas Dank am letzten Tag, als sie sagt: „Danke, dass ihr bei uns wart. Mit dem Geld helft ihr, das Studium unserer Kinder zu finanzieren.“ Vielleicht aber auch einfach das stille Wissen: Dass wir für einen Moment nicht zu Besuch waren, sondern zuhause.

Janina Marisa Schenker

Meine ideale Vacation ist die Connectioncation. Am glücklichsten bin ich, wenn ich mit Einheimischen in Verbindung trete und tief in ihre Kultur eintauche. Für mycation entdecke ich als reisende Journalistin die Geheimtipps und versteckten Juwelen Lateinamerikas und der Welt.

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