Kambodscha ist ein Land, das in kürzester Zeit die unterschiedlichsten Emotionen in mir ausgelöst hat – von Staunen über tiefes Mitgefühl, Bewunderung und Entsetzen bis hin zu grosser Dankbarkeit. Das einfache Leben vor Ort hat mich begeistert und mir gezeigt, wie wenig es braucht, um wirklich glücklich zu sein. Während meiner Reise habe ich viele Eindrücke gesammelt, die mich zum Nachdenken gebracht und gleichzeitig inspiriert haben.
In den ersten beiden Teilen dieser Serie habe ich dich nach Siem Reap und Koh Rong mitgenommen. In diesem letzten Teil tauchen wir in die Hauptstadt von Kambodscha ein, Phnom Penh.
Phnom Penh
Nach all den Horrorgeschichten über Kriminalität in der Hauptstadt nehmen wir lieber ein Tuk-Tuk von der Bushaltestelle – sicher ist sicher. Unser Hotel liegt an einer Strasse, die als neue „Pub Street“ vermarktet wird… Allerdings ohne nennenswertes Pub-Leben. Wir essen ein paar frittierte Bananen und beobachten das Geschehen. Traurig: Viele Kinder kommen ins Restaurant, um Rosen zu verkaufen oder zu betteln. Es fühlt sich nicht richtig an, dort lange zu bleiben, also ziehen wir uns bald zurück. Im Hotel angekommen geniessen wir endlich eine saubere, lange Dusche – ohne Geckos an der Wand oder Pferde vor dem Bett.
Heute ist es so weit – Ine und ich trennen uns und setzen unsere Reisen auf unterschiedlichen Wegen fort. Erstaunlich, wie schnell man sich an die ständige Anwesenheit eines Travelbuddys gewöhnt. Zum Abschied gönnen wir uns am Morgen eine Pediküre und essen ein letztes Mal im Restaurant WILD (es gibt auch eins in Phnom Penh). Etwas wehmütig, aber auch voller Vorfreude auf das, was noch kommt, sagen wir Tschüss.
Ich nehme ein Tuk-Tuk zum Hostel und treffe im Zimmer direkt auf eine Holländerin, die mich spontan fragt, ob ich mit ihr und ihrer Freundin den Royal Palace besuchen will. Da ich noch keinen Plan habe, sage ich zu. Kurz darauf kommt noch eine weitere junge Frau ins Zimmer. Wir fragen, ob sie mitkommen möchte – sie lehnt ab. Es ist ihr erster Tag der Solo-Reise, und sie wurde am Morgen ausgeraubt: Im Tuk-Tuk riss ihr ein Rollerfahrer die Tasche vom Arm. Eine grosse Schürfwunde bestätigt die Geschichte. Pass, Handy und Portemonnaie – alles weg. Und das Schlimmste: Es gibt kein Konsulat ihres Landes in Kambodscha. Jetzt muss sie sich erst einmal mit der Polizei herumschlagen. Man muss also auch im Tuk-Tuk vorsichtig sein.
Nach der Begegnung im Hostel machen wir uns vorsichtig auf den Weg zum Royal Palace – eine riesige Anlage mitten in der Stadt. Der Eintritt kostet stolze 10 USD, was etwas happig ist, vor allem, da grosse Teile wegen des dort residierenden Königs nicht zugänglich sind. Für ein paar schöne Fotos lohnt es sich trotzdem – auch wenn wir nach nur 30 Minuten freundlich hinauskomplimentiert werden. Um 17 Uhr ist nämlich Schluss.
Wir entscheiden uns spontan, den Tag in einer HighGround Sky Bar ausserhalb des Zentrums ausklingen zu lassen. Es dämmert bereits, also nehmen wir lieber ein Tuk-Tuk – sicher ist sicher. Die Bar im 47. Stock ist fast leer, aber supermodern – mit einem atemberaubenden Blick auf die Stadt und den Sonnenuntergang. Bei Happy Hour Cocktails erzählen mir die beiden Holländerinnen von ihren Erlebnissen in Vietnam und geben wertvolle Tipps. Ein lustiger und entspannter Abend wars. Zurück im Hostel telefoniere ich noch mit Familie und Freunden – während ich von der Dachterrasse aus auf den ruhigen Mekong hinunterblicke. Ein Moment zum Durchatmen.




Ein dunkler Tag
Der nächste Morgen ist deutlich ernster. Gemeinsam mit drei anderen aus dem Hostel fahre ich mit dem Tuk-Tuk zum Tuol-Sleng-Gefängnis (S-21), das heute als Museum dient. Es war einst ein Ort des Grauens, an dem während der Schreckensherrschaft der Roten Khmer von 1975 bis 1979 unzählige Menschen gefoltert und ermordet wurden. Am 17. April 1975 marschierten die Roten Khmer in Phnom Penh ein und zwangen innerhalb von drei Tagen die gesamte Stadtbevölkerung zur Flucht aufs Land. Banken, Schulen, Krankenhäuser – alles wurde geschlossen. Pol Pot, der Anführer des Regimes, wollte eine „reine“ Agrargesellschaft erschaffen, in der alle gleich sind – arm, besitzlos und von der Landwirtschaft abhängig. Geld und Eigentum wurden abgeschafft, das Tragen einer Brille oder weiche Hände konnten bereits ein Todesurteil bedeuten. Wer gebildet war, aus der Stadt kam oder sich widersetzte, wurde ermordet.
In nur vier Jahren starben über drei Millionen Menschen – fast die Hälfte der Bevölkerung. Ärzte, Lehrer, Mönche, Beamte, Intellektuelle… niemand war sicher. Die Bevölkerung wurde entweder in Zwangsarbeitslager geschickt oder systematisch ausgelöscht – alles im Namen eines totalitären, kommunistischen Ideals.
Im Tuol-Sleng-Gefängnis erhalten wir einen Audioguide, der uns über zwei Stunden lang durch die ehemaligen Zellen und Gebäude führt. Es ist schwer zu ertragen – die gezeigten Fotografien der Folterungen, die mit Kameras jener Zeit festgehalten wurden, lassen das Grauen beklemmend real wirken. Tausende Porträts von Gefangenen blicken uns von den Wänden entgegen – Männer, Frauen, Kinder. Im Tuol Sleng allein wurden rund 20.000 Menschen gefoltert und ermordet. Nur 11 überlebten. Parolen wie „Das Unkraut muss man mit den Wurzeln ausreissen“ oder „Lieber tötest du einen Unschuldigen, als einen Feind zu verschonen“ – Zitate von Pol Pot – rechtfertigten den systematischen Mord an ganzen Familien. Es ist bedrückend. Und doch so wichtig, diesen Ort zu besuchen. Die Vergangenheit ist nicht weit weg – sie lebt weiter in den Geschichten der Überlebenden, die im Audioguide selbst zu Wort kommen.
Unser Guide in Angkor Wat hatte gesagt, es gebe keine einzige Familie in Kambodscha, die nicht mindestens ein Opfer des Genozids zu beklagen habe. Diese Erfahrung zeigt, wie tief die Wunden reichen – und wie notwendig es ist, hinzusehen, zuzuhören und zu erinnern.
Nach dem Gefängnis fahren wir etwa 40 Minuten zu den Killing Fields. Im Tuk-Tuk ist es still – jeder hängt seinen Gedanken nach, versucht das eben Gehörte irgendwie zu verarbeiten. Auf den ersten Blick wirken die Killing Fields wie ein friedlicher Park an einem See. Kaum vorstellbar, dass hier ein Ort des Grauens liegt. Mit einem weiteren Audioguide gehen wir still den Pfaden entlang, jeder in seinem eigenen Tempo. Auch hier wurden rund 20.000 Menschen ermordet und in Massengräbern verscharrt – Frauen, Männer, Kinder. Und das ist nur eines von über 300 Killing Fields im Land.



Man fragt sich, wie so etwas geschehen konnte. Kambodscha war durch jahrzehntelangen Krieg und amerikanische Bombardierungen bereits geschwächt. Pol Pot strebte das „Jahr Null“ an – eine Gesellschaft ohne Stadtmenschen, ohne Besitz, ohne Religion. Der König unterstützte seine Vision, was ihm volle Macht gab. Die Realität ist schwer zu begreifen. Noch heute ragen Kleidungsreste aus der Erde. Besonders erschütternd ist der „Killing Tree“, an dem Babys brutal ermordet wurden.
Im Zentrum des Geländes steht eine Gedenkstupa mit rund 9.000 Totenschädeln und Knochen – stille Zeugen des Grauens. Weil die Roten Khmer im Verborgenen töteten, wurden keine Schusswaffen verwendet. Die Spuren an den Schädeln zeigen: Die meisten Menschen wurden mit Stöcken, Hämmern, Messern oder Hacken erschlagen.
1979 befreite Vietnam Kambodscha von der Schreckensherrschaft der Roten Khmer, Pol Pot floh nach Thailand. Da Vietnam an der neuen Regierung beteiligt war, erkannten viele westliche Länder – darunter die USA, Grossbritannien und Deutschland – diese zunächst nicht an. Stattdessen behielt die Khmer-Regierung im Exil ihren Sitz bei den Vereinten Nationen – als offizielle Vertretung Kambodschas. Unglaublich, aber wahr: Dieser Sitz bestand bis 1993, also Jahre nach dem Ende des Genozids. Pol Pot führte die Roten Khmer aus dem Exil noch rund 20 Jahre weiter, bevor er im Alter von 82 Jahren an einer Vergiftung starb. Es fällt schwer, das alles zu begreifen. Der Morgen hat uns alle tief bewegt.
Hinweis
Nimm dir nach dem Besuch von Tuol-Sleng und den Killing Fields nicht mehr viel vor für den Rest des Tages. Du wirst Zeit brauchen, das Gehörte zu verarbeiten. Sprich mit Freunden oder Familie darüber, wenn es dich bedrückt. Nach der Tour haben wir zum Beispiel gemeinsam auf der Dachterrasse des Hostels zu Mittag gegessen und uns entschieden, den restlichen Tag ruhig anzugehen. Ich mache ein paar Einkäufe, spaziere noch ein wenig am Fluss entlang – einfach, um durchzuatmen.
Meinen letzten Abend in Phnom Penh verbringe ich auf der Rooftop-Bar des Hostels, während die Sonne langsam über dem Mekong untergeht. Ein stiller Abschluss eines intensiven Tages – und eines bewegenden Kapitels dieser Reise.

(c) Alle Bilder hat Jannina Stüben bei ihrer Reise gemacht. Titelbild von Unsplash.