Nachtzüge sind Reisen im doppelten Sinn: Man legt Kilometer zurück und taucht gleichzeitig in eine besondere Atmosphäre ein. Kaum ein anderes Verkehrsmittel zeigt so deutlich, wie unterschiedlich Reiseerfahrungen sein können.
In Indien hat Jannina eine Fahrt im Massenabteil erlebt, mit wenig Komfort, dicht gedrängten Betten und viele unvorhersehbare Momente, dafür aber ein authentischer Einblick ins Leben unterwegs. Ganz anders verlief Jennys Reise durch Kasachstan: Gemeinsam mit ihrem Freund verbrachte sie 16 Stunden in einem Privatabteil, während sie durch die Steppe rauschte.
Zwei Nachtzüge, zwei Welten – von minimalistisch bis luxuriös. In diesem Beitrag vergleichen wir die Erlebnisse und zeigen, wie unterschiedlich das Reisen im Schlafwagen sein kann.
Eine Nacht im indischen Massenabteil

Mit Freunden, die ich auf meinem Solo-Trip durch Indien kennengelernt habe, trafen wir die Entscheidung, einen Nachtzug von Agra nach Varanasi zu nehmen. Kurz darauf befinden wir uns schon am dicht gedrängten Bahnhof und versuchen, unsere siebenstellige Wagennummer unter den nicht in Reihenfolge angeordneten Waggons ausfindig zu machen. Wir haben ein riesengrosses Glück, dass unsere «Betten» im gleichen Abteil sind, denn wir haben von einigen gehört, dass die Sitz- und Schlafplätze oft willkürlich an Gruppen verteilt werden. Wer schliesslich auf welchem Bett schläft, kann schnell zum kleinen Machtspiel werden. Beim Einstieg sind die Liegen nämlich noch nicht heruntergeklappt, und bis zur Nachtruhe teilt man sich enge Dreiersitze oder seitliche Bänke.

Es ist angenehm leise, ausser dem Rattern des Zuges hört man nicht viel. Ob es daran liegt, dass uns die umliegenden Gäste einfach viel zu neugierig anstarren oder ob es doch mit Anstand im Nachtzug zu tun hat, wissen wir bis heute nicht. Kurz nach Abfahrt kommt eine Art Speisewagen an uns vorbei. Man kann es sich ein wenig wie der Süssigkeitenwagen im Hogwarts Express vorstellen, nur mit Curry und Samosas. Einige von uns haben vorgesorgt und ihre eigenen Take-away-McDonald’s-Tüten dabei (denn wie man weiss, verspäten sich indische Züge nicht selten um mehrere Stunden). Meine Kollegin Merel jedoch wagt es und nimmt ein Curry. Leider zu ihrem Verhängnis: Sie verbringt den Rest der Zugfahrt auf der Zugtoilette. Wobei man hier eigentlich nicht von Toilette sprechen kann, sondern schlicht von einem Loch im Boden. Die Arme…
«Es ist ein Erlebnis, das man vor allem für die Erinnerung macht.»
Plötzlich rennt ein nervöser Schaffner an uns vorbei, scheucht uns auf und klappt mit energischen Handgriffen die Betten herunter. Er wirft uns ein paar frische Laken entgegen und befiehlt uns, in unsere zugewiesenen Betten zu steigen. Aus Angst, in den Schlaf geprügelt zu werden, folgen wir brav. Mit dem Rucksack als Kissen – aus Sicherheitsgründen – nicke ich schliesslich ein. Als ich erwache und eine Handvoll indischer Männer im Gang steht und auf mich herabstarrt, wird mir schon ein wenig mulmig. Eigentlich bin ich die Blicke inzwischen gewohnt, doch im Schlaf überrascht zu werden, ist dann doch noch einmal ein anderes Gefühl.


Wer glaubt, im Zug Dunkelheit zum Schlafen zu bekommen, liegt falsch. Die grellen Leuchtstoffröhren blenden ununterbrochen von der Decke – ganze 13 Stunden lang durch die Nacht hindurch. Eine Schlafmaske ist also eindeutig von Vorteil. Da bin ich doppelt froh, dass ich mich ins mittlere Bett gekämpft habe. Denn es sind drei Liegen übereinander, und so hat man wenigstens etwas Lichtschutz. Wer unten schläft, liegt direkt auf den Sitzen – dort, wo zuvor alle Mitreisenden des „Abteils“ gesessen haben.
Obwohl ich schon viele nackte Füsse auf indischen Strassen gesehen habe, wirkt es dennoch ungewohnt, Menschen barfuss im Zug herumlaufen zu sehen – besonders beim Gang zur Toilette. Oder sie plötzlich auf Gesichtshöhe zu haben, wenn man selbst im Gang steht.
Etwa fünf Minuten vor Ankunft in Varanasi ertönt die Durchsage, dass wir gleich da sind – was für uns natürlich nur durch einen schnellen Blick auf Google Maps verständlich wird. Die grösste Herausforderung besteht also darin, innerhalb der verbleibenden vier Minuten alles einzupacken, sich durch den überfüllten Zug zu drängen und schliesslich im 30-Sekunden-Halt hinauszuspringen.
Mein Fazit dieser Zugfahrt: Es ist ein Erlebnis, das man vor allem für die Erinnerung macht. Mit guter Gesellschaft und einem starken Magen wurde es zu einem meiner unvergesslichsten Momente der Indienreise. Und ich bin froh, erlebt zu haben, wie es sich anfühlt, für gerade einmal 16 Franken durch die indische Nacht zu reisen.
- Privatsphäre = 0/10 (nicht einmal ein Vorhang hat man)
- Abenteueratmosphäre = 10/10
- Triggerwarnung: Nackte, dreckige Füsse auf Augenhöhe
Wer es gerne luxuriöser mag, der kann natürlich auch den Maharjas Express zu den bekanntesten Sehenswürdigkeiten Indiens buchen und eine Train-Cruise der Extraklasse geniessen.
16 Stunden im Privatabteil durch Kasachstan


Mein Freund und ich entschieden uns dafür, von Astana nach Almaty in den Süden mit dem Zug zu fahren, statt zu fliegen. Nur so würden wir zum Sonnenaufgang in die Natur eintauchen. Ausserdem ist Zugfahren für die meisten Menschen des Landes erschwinglich. Mein Freund und ich entschieden uns für das private Abteil und bezahlten für die 16-stündige Fahrt 40 Franken pro Person.
Die Reise fing in Astana an. Der Zug hielt im Land an mehreren Orten, Karaganda und Shu. Dadurch tummelten sich am Bahnhof zahlreiche Familien mit reichlich Gepäck, Tüten voller Lebensmittel, die von der Hauptstadt nach Hause oder zur Familie transportiert werden sollte. Der Leiter unseres Waggons zeigte uns, wo wir Wasser hatten und wie wir unser Bett ausklappen konnten. Es handelte sich um einen Mann in seinen 60ern, der im Anzug mit Kapitänshut Anweisungen gab. Am Morgen würde er uns in Jogginghose erklären, dass der Zug Verspätung hatte.
«Da scheinen Sandwiches aus dem Imbiss der Deutschen Bahn eher traurig dagegen.»
Zwei Welten prallten in Kasachstan aufeinander, das herausgeputzte Astana und das authentische, echte Kasachstan. Ausgerechnet die Schienen wurden zur Brücke zwischen den beiden Welten. Die Betten waren bequem. Wir hatten uns mit Snacks und Getränken zugedeckt und beobachteten, wie sich die Landschaft vor unseren Fenstern änderte. Vorbei an den hochglanzpolierten Palästen hin zu sowjetischer Beton-Architektur mit bröckelndem Putz.


Im Zug zu schlafen, ist gewöhnungsbedürftig. Immer wieder wacht man auf, weil es so ruckelt. Ich brauch aber nicht viel Platz, deshalb war es für mich kein Problem. Eigenes Wasser zum Zähneputzen zu haben ist ein heiliger Gral und für mich war es ein absolutes Highlight. Das WC auf dem Gang war sauber, nur irgendwann hatte es dort kein Wasser mehr.

Doch das Beste erwartete uns in den frühen Morgenstunden, als die Landschaft in mystisches Licht getaucht wurde. Man sah Felder, Tiere, einzelne Siedlungen. Perfekt für den ersten Kaffee. Im Waggon nebenan gab es ein Restaurant mit einer üppigen Karte. Von Spiegelei bis Teigtaschen mit Kartoffelbrei gab es absolut alles Mögliche. Da scheinen Sandwiches aus dem Imbiss der Deutschen Bahn eher traurig dagegen. Der Service ist schnell, das Essen günstig. Wir zahlten 5 Euro für Kaffee, Eier, Würstchen und Teigtaschen. Besonders spannend war es, die Menschen um einen herum zu beobachten. Die Plätze im Frühstückswaggon waren beliebt. Jeder hatte eine Kanne Tee vor sich.
Am Ende Richtung Almaty nahm das Chaos dann endgültig Überhand. Wir standen im Zugstau und brauchten eine Stunde, um in die Stadt einzufahren. Vor uns zeichneten sich die Berge ab. Es war eine wunderschöne Erfahrung und ich würde jederzeit wieder in den Zug steigen.
- Privatsphäre = 8/10 (Schreie hätte man auf dem Flur schon gehört)
- Abenteueratmosphäre = 10/10
- Aussicht = 10 /10
- Triggerwarnung = Höhenangst, wer oben liegt, sollte Höhe ab können.
Wer wissen möchte, was man in Kasachstan noch so alles erleben kann, liest hier weiter.