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„Wohin geht’s in deinen grossen Ferien dieses Jahr?“ – „Nach Kasachstan.“ Die Reaktionen darauf waren fast immer gleich: ein erstaunter Blick, gefolgt von der unvermeidlichen Frage: „Das ist doch das Land aus Borat, oder?“ Und kaum ausgesprochen, kam auch schon die nächste: „Warum ausgerechnet dorthin?“ Ein paar Monate später, als mein Freund und ich in das Flugzeug nach Astana steigen, hinterfrage ich meinen Plan.

Überall wird russisch gesprochen, wir fallen mit unseren Rucksäcken auf, wie bunte Vögel in einem grauen Schwarm, denn meistens haben die Leute einfach Tüten dabei. Oder Koffer, die zu gross für das Handgepäck sind. Doch die Neugier siegt. Rückblickend kann ich sagen: Es war die beste Entscheidung meines Lebens.

Erster Halt: Astana – Stadt der Visionen in der Steppe

Der Flughafen von Astana überrascht mit seiner Grösse – klein und ruhig, fast bescheiden für die Hauptstadt Kasachstans. Hier herrscht gähnende Leere, im Flugzeug sassen praktisch keine Touristen. Dennoch freuen mein Freund und ich uns seit Wochen auf das Abenteuer. Sobald wir im Taxi sitzen, beginnt der Zauber: Aus dem Fenster sehe ich die weiten Strassen, gesäumt von sowjetischen Bauten, die sich schnurgerade durch die endlose Steppe ziehen. Die kühle Septemberluft lässt die futuristische Skyline der Stadt umso beeindruckender wirken – wie eine Version von Dubai mitten in Zentralasien.

Astana steht für den Aufbruch und die Modernisierung Kasachstans. Die Hauptstadt ist ein beispielloses Exempel einer Stadt, die nicht natürlich entstand, sondern genauestens geplant wurde. SRF beschrieb den Bau in einer Dokumentation mit den Worten: «Gross soll es sein, Geld spielt keine Rolle.» Und das sieht man: Das Khan Shatyr ist mehr als ein Einkaufszentrum: Es gibt Indoor-Strände, Geschäfte für alles, Restaurants und einen kleinen Vergnügungspark. Wenn man hinaustritt und sich umdreht, sieht man alle Sehenswürdigkeiten in einer Reihe hintereinander. Links die Astana Opera, dann Gebäude, die den Baiterek Turm umrahmen. Dahinter der Ak-Orda-Palast, wo der Präsident wohnt.

Blick auf die Stadt

Auf den Baiterek Turm zu steigen und die Hand in den goldenen Handabdruck des ehemaligen Präsidenten Nursultan Nasarbajew zu legen, erweist sich als Touristen-Falle. Die Fahrt nach oben kostet etwa 5 Franken und die Aussicht ist nicht besonders schön. Stattdessen lohnt es sich, in dem Restaurant «Eternal Sky» im Einkaufszentrum «Moskwa» eine Tee-Pause einzulegen und Bischbermak (Rindfleisch mit Teig) oder Lagman (die kasachische Version von handpulled Noodles) zu bestellen. Essen ist hier trotz der Aussicht nicht besonders teuer und wahnsinnig fein. Von dem Restaurant aus hat man einen Rundumblick auf die ganze Stadt.

Ein paar Minuten Fahrt entfernt, die sich bei Stau in unendliche Länge ziehen, steht die Hazret-Sultan-Moschee, eines der grössten islamischen Bauwerke in Zentralasien. Blaue Farben strahlen von der Decke herab. Überall werden die Wände poliert, während andere Besucher:innen beten.

Mit dem Nachtzug ins Abenteuer

Vier Tage in der Hauptstadt reichen aus, denn eigentlich suche ich nach Bergen, Seen und Natur. Dafür nehmen mein Freund und ich den Nachtzug. 16 Stunden später kommen wir im Süden des Landes an. Die Fahrt kostet 40 Franken pro Person im privaten Abteil. Wir haben alles, was wir brauchen: fliessend Wasser, warme Decken und Snacks. Am morgen gibt es im Restaurant feinstes Znüni, während wir an den Steppen vorbeirasen. Eier, Wareniki, Chebureki oder gleich Schaschlik bekommt man für etwa 2 Franken pro Speise.

Nächster Halt: Almaty – Natur und Kultur vereint

In Almaty angekommen, bemerke ich als Erstes die Berge über der Stadt. Oben auf dem Trans-Ili-Alatau-Gebirges liegt Schnee, dabei hat es 25 Grad. Wir tauschen also die kühle Hauptstadtluft gegen die warmen Strahlen Almatys – die Daunenjacke verschwindet tief im Koffer. Die Gebäude sind alt, die Strassen eng. Hier leben nicht nur die Reichen und Schönen. Auf der Strasse wird heisser Mais verkauft, überall gibt es die berühmten Äpfel der Region.

Almaty bei Sonnenuntergang.

Almaty galt lange Zeit als Hauptstadt und ist viel älter als Astana. Die grösste Stadt Kasachstans galt als wichtiger Knotenpunkt der grossen Seidenstrasse. Almaty ist ein Schmelztiegel der Kulturen mit einer lebendigen Kunstszene, zahlreichen Museen, Theatern und historischen Stätten. Die Stadt wird oft als «Gartenstadt» bezeichnet, da sie über viele grüne Parks verfügt. Im Park des ersten Präsidenten gibt es eine weitläufige Grünanlage, die auf 73 Hektar Fläche und beeindruckende Aussichten auf die Tian-Shan-Berge. Hier treffen Jung und Alt aufeinander, um die goldenen Herbsttage zu geniessen, Eichhörnchen zu entdecken und einfach auf der Bank in der Natur zu sitzen.

Auf den Spuren des Zweiten Weltkriegs

Die Christi-Himmelfahrt-Kathedrale, die höchste orthodoxe Holzkirche der Welt, beeindruckt mit ihrer Architektur und den goldenen Ikonen im Inneren. Sie liegt mitten im Park der 28 Panfilowzy. An diesem Ort finden sich auch die Spuren des Zweiten Weltkrieges, der auch in Kasachstan zahlreiche Opfer forderte. Auf Gedenkstätten reihen sich Namen gefallener Soldaten aneinander, während das ewige Feuer brennt.

Die Christi-Himmelfahrt-Kathedrale.

Enttäuscht hat uns der Kok Tobe Hill. Hier findet man neben einem Gruselkabinett und einem traurigen Streichelzoo im Mini-Gehege für kasachische Verhältnisse extrem teures und schlechtes Essen. Der Blick auf die Stadt lohnt sich eher, wenn man eine Skybar aufsucht. Denn dann hat man auch die Aussicht auf die Berge.

Bei der Gondelfahrt zum Kok Tobe Hill sehen wir die Stadt von oben.

Wir mieten uns ein Auto und erleben das echte Kasachstan: authentisch, wild und abenteuerlich. Wer in Almaty ist, kommt nicht um den «Big Almaty Lake» – vorausgesetzt, man schafft es, ihn zu erreichen. Am besten fährt man unter der Woche mit dem Auto oder Taxi nach oben. Doch am Wochenende ist hier hoher Betrieb. Dann kommen die Einheimischen der ganzen Umgebung, um zu grillieren, zu feiern oder einfach in der Natur zu sein. Die Strasse wird abgesperrt und nur Sportliche, die vier Stunden Wanderung in Kauf nehmen, kommen nach oben. Mein Freund und ich entscheiden uns spontan für ein Picknick am Fluss und heben uns die Wanderung zum See fürs nächste Mal auf.

EIn Picknick am Fluss: Almaty hat überall wunderschöne Natur.

Am letzten Tag in Almaty schauen wir ein Cupfinal in Kasachstan an. Es spielt Atyrau gegen FK Atobe. Das Niveau ist zwar nicht mit europäischen Teams zu vergleichen, dafür wissen die Kasachen, wie man in der Halbzeit die Menge bei Laune hält. Es werden ein Schaschlikgrill und ein Mini-Kühlschrank für das Auto verlost.

Cupfinale in Kasachstan.

50 Shades of Red: Der Scharyn Canyon

Kaum fahren wir aus der Stadt raus, sehen wir wilde Pferde, die durch die Vegetation galoppieren. Wir lassen das Tian-Shan-Gebirge zurück. Während die Städte auf Schildern in kasachisch angekündigt werden, fährt vor uns ein Lastwagen aus der deutschen Stadt Bottrop mit der Aufschrift «Garant für perfekte Küchen». Generell fällt schnell auf: Die Autos, die in Europa nicht mehr zugelassen wären, finden sich jetzt auf Kasachstans Strassen. Je näher wir unserem Ziel kommen, desto hügeliger wird die Landschaft. Und dann erblicken wir den Scharyn Canyon.

Ein Stück Bottrop in Kasachstan: Die LKW-Plane wurde nicht einmal ausgetauscht.

Die Landschaft im Canyon sieht aus, wie nicht von dieser Welt. Bei Sonnenuntergang entfaltet sich ein spektakuläres Farbspiel: Die Felsen leuchten in tiefen Rottönen, während goldene und orangefarbene Schattierungen die Konturen hervorheben.

Der Scharyn Canyon bei Sonnenuntergang.

Es sind verhältnismässig viele Leute da, doch gleichzeitig fühlt man sich irgendwie allein. Nirgends muss man anstehen und man findet immer einen Fotospot ohne Menschen. Wir kommen gar nicht aus dem Staunen heraus.

Die Atmosphäre im Canyon ist magisch.

Mein Freund hatte die geniale Idee, im Canyon zu übernachten. Im Internet hatte er gelesen, dass es dort Zelte gibt. Doch auf Nachfrage heisst es: «Nein, der Park hat seit ein paar Jahren zu.» In den Unterkünften rund um den Canyon ist alles ausgebucht. Das ist der Nachteil daran, in nicht touristische Reisedestinationen aufzubrechen: Infos von Reisenomaden aus den Blogs sind schnell veraltet.

Booking.com ist hier keine sonderliche Hilfe. Zwar kann man Hotels buchen, wenn man aber anruft und fragt, heisst es teilweise, es gebe keine Plätze mehr. Nach ein paar Telefonaten finden wir eine Bleibe in Saty. Der Ort hat nur ein einziges Restaurant bestehend aus Plastikstühlen, grünen Wänden und einer Tischdecke, die leicht klebt – doch dafür schmecken der Plov (usbekisches Reisgericht), Manti (Teigtaschen mit Fleisch) und der Kompott (Getränk aus gekochtem Obst) sensationell.

Kulinarische Highlights: Bischbermak, Lagman, Plov und Samsa.

Halt im versunkenen Wald: Der Kaindy Lake

Unser nächstes Ziel führt uns auf einen Weg, den man kaum als Strasse bezeichnen kann. Zahlreiche alte sowjetische Busse rasen in einer Geschwindigkeit die enge Bergstrasse nach oben. Kaum jemand wagt sich mit dem Auto durch die Strasse voller Schlaglöcher. Wir wissen weshalb, als wir vor einem reissenden Fluss stehen, durch den die Busse brettern. Ein Einheimischer erklärt uns, wie wir fahren müssen: Gas geben, nicht anhalten. Und tatsächlich schaffen wir es mit viel Herzklopfen über den Fluss, den kurz zuvor ein wildes Pferd mit Leichtigkeit überquert hatte.

Der Kaindy Lake ist vom grossen Parkplatz aus in etwa einer Stunde zu erreichen. Bevor wir uns auf dem Weg machen, setzen wir uns an den blauen Fluss und frühstücken. Es gibt Kaffee und Piroschki mit Kartoffelfüllung. Innerhalb von einer Stunde Wanderweg erreichen wir schliesslich den berühmten See.

Der Kaindy Lake voller Birkenstämme.

Aus dem Wasser ragen Baumstämme, die eine mystische Atmosphäre schaffen. Sie stammen aus einem Wald, der 1911 nach einem Erdbeben versank, als ein Erdrutsch das Tal blockierte und mit Wasser füllte. Das kalte Wasser, das selbst im Sommer nur 6 Grad erreicht, hat die Baumstämme perfekt konserviert. Rund um den See leuchten die Bäume in Gelb- und Orangetönen und verstärken die magische Stimmung der Landschaft.

Perlen der Berge: Kolsai Lakes

Der erste Kolsai Lake bei Sonnenaufgang.

Die Kolsai Lakes sind für Einheimische das Wahrzeichen der Region. Besonders am Wochenende wird es hier extrem voll. Wir fahren in den frühen Morgenstunden los, um den See ohne Menschenmengen zu sehen. Insgesamt gibt es drei Kolsai Lakes. Die alpinen Seen werden oft als «Perlen des Tian Shan» bezeichnet.

Um 7 Uhr herrscht hier noch gähnende Leere.

Wer alle Seen besuchen will, muss dort übernachten, denn man wandert acht Kilometer vom ersten zum zweiten See. Der Weg führt durch Wälder und bietet spektakuläre Ausblicke auf die Berge. Der dritte Kolsai Lake liegt in totaler Abgeschiedenheit und wird am wenigsten besucht. Die Seen beeindrucken mit ihrem klaren, tiefblauen Wasser, das die umliegenden Wälder und wie ein Spiegel reflektiert. In dem geschützten Nationalpark sind übrigens Schneeleoparden, Bären und Steinböcke zu Hause.

Die Kolsai Seen liegen mitten im Bergmassiv.

Stille, Tiefe, Schönheit: Der Black Canyon

Am Black Canyon halten zahlreiche Touristenbusse an.

Auf der Strasse werden wir immer wieder von Reisebussen überholt. Viele Reiseveranstalter bieten an, in wenigen Tagen Usbekistan, Kasachstan und Kirgistan zu erkunden. Immer wieder sehen wir, wie Menschen zu den Spots gebracht werden, Fotos machen, und nach 15 Minuten wieder im Bus verschwinden. Wir sehen ein Schild, das den Black Canyon ankündigt und halten an. Der Canyon fasziniert mit seinen dunklen, steilen Felswänden, die über Jahrtausende vom Scharyn-Fluss geformt wurden. Das Rauschen des hellblauen Flusses schafft eine einzigartige Atmosphäre – wäre nur nicht so viel los.

Jenny und ihr Freund am Black Canyon.

Wir entschliessen uns, weiterzufahren und entdecken ein paar Hundert Meter weiter die gleiche Aussicht, nur ohne Touristen. Wer mit dem Mietauto unterwegs ist profitiert davon, überall anhalten zu können. Diese Pausen machen auch unsere Reise aus: Wir kochen Kaffee auf dem Campingkocher und essen Samsa (gebackene Teigtaschen mit Fleisch).

Der Weg nach Kirgistan

Unsere Reise führt uns weiter nach Kirgistan. Auf dem Weg von Saty nach Karakol wechselt die Landschaft immer wieder: Flaches, goldenes Grasland erstreckt sich bis zum Horizont, während Herden von Kühen und Zuchpferden gemächlich am Strassenrand grasen.

Die Hauptstrassen sind sehr gut und wenig befahren.

Kleine Dörfer, weitläufige Weiden und sanfte Hügel unterbrechen die scheinbare Endlosigkeit. Das Bergmassiv wird zunehmend dominanter, je näher wir der Grenze kommen, und erheben sich wie eine natürliche Barriere zwischen den beiden Ländern. Schließlich erreichen wir Kirgistan – aber um Michael Ende zu zitieren: «Das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.»

Jenny

Meine ideale Vacation ist die Lonelycation. Meine Reisen führen mich an abgelegene Seen, in stille Berglandschaften oder an einsame Küsten. Für mycation suche die unentdeckten und geheimen Flecken der Welt.