Zugfahren klingt nach einer Aktivität für Boomer. Hab ich auch gedacht. Deshalb habe ich meinem Vater zum Geburtstag eine Fahrt mit dem Bernina Express geschenkt. Er schwärmt seit Jahren von der malerischen Strecke, die er unbedingt einmal erleben wollte.

Ich persönlich bin eher Team Wanderschuh. Doch nachdem ich mit dem Zug über die Gleise des UNESCO-Welterbes getuckert bin, muss ich zugeben: Mol, das het öppis. Es ist, als würde man live durch eine Doku über die Schweiz gondeln. Warum ich trotzdem kein zweites Mal im Panorama-Wagen Platz nehmen würde, erfährst du hier.
Information
Wer auf der Kultstrecke reisen will, hat zwei Möglichkeiten. Mycation-Redaktorin Jenny hat beide getestet:
- Mit dem Bernina Express – dem Touri-Zug mit Panoramafenstern, reservierungspflichtig und oft Monate im Voraus ausgebucht.
- Mit der normalen Rhätischen Bahn – gleicher Streckenverlauf, weniger Schnickschnack, zwei Umstiege, aber mehr Spontaneität und Geld im Portemonnaie.

Reservieren und Sparen beim Bernina-Express
Die Tickets sind nicht günstig. Die Strecke dauert rund 4,5 Stunden und kostet mindestens CHF 65 – mit etwas Pech (und wenig Planung) sogar bis zu CHF 89 (auch mit Halbtax).
Aber: Es gibt ein paar Spartricks. Wenn man im Voraus einen Tag aussucht, kann man mit Spartageskarte für CHF 52 durch die ganze Schweiz fahren, also hin und zurück. Mit Halbtax sogar für CHF 39.
Plus: Die Sitzplatzreservierung im Panorama-Abteil des Bernina-Express kostet pro Person nur 5 Franken.
Hinweis zur Spartageskarte
Jede Gemeinde besitzt pro Tag ein Kontingent an Spartageskarten, die in der Schweiz wohnhafte Personen erwerben können. Manche Gemeinden verschicken diese dann per Mail, andere verteilen sie vor Ort. Auf der Webseite erkennt ihr, in welcher Stadt oder Gemeinde es für euren Wunschtag noch Billette hat.

Facts für Nerds mit Lok-Fetisch
- Die Bahn überwindet 1’824 Höhenmeter – ohne Zahnrad.
- Sie fährt über 196 Brücken und durch 55 Tunnel.
- Und: Der Bernina Express nutzt teilweise Gleichstrom, was für Elektro-Freaks ein kleines Highlight ist.
Klingt nicht nur cool – ist es auch. Spätestens beim Landwasserviadukt oder dem berühmten Kreisviadukt bei Brusio zücken selbst Hardcore-Autofans die Kamera. Damit kann keine Passstrecke mithalten, obwohl die Schweiz schon auch wunderschöne Roadtrips hat.

Von Blümli bis Palmen: Eine Reise durch die vier Jahreszeiten
Wer von Chur nach Tirano (I) reist, erlebt während mehrerer Stunden eine Tour durch alle vier Jahreszeiten. Die Rhätische Bahn windet sich vorbei an blühenden Wiesen und dichten Wäldern, klettert hoch zu Gletschern und taucht dann hinunter zu den Palmen Italiens.
Die Fahrt startet im grünen Albulatal: unendlich scheinende Wiesen, tiefe Täler und Dörfer wie aus dem Bilderbuch. Man rauscht gefühlt mitten durch den Frühling – bis der Zug übers 65 Meter hohe Landwasserviadukt schwebt und im Felsen verschwindet.

Weiter geht’s durchs Engadin mit weiten Seen und lichtem Arvenwald – und plötzlich ist Winter. Ab Pontresina kämpft sich der Zug hoch zum Ospizio Bernina auf 2’253 Metern. Gletscher, Schneefelder, der Morteratsch – und selbst im Mai noch Skifahrer, während im Tal schon Glacéwetter herrscht.

Dann kommt der Herbst: Der Bernina Express windet sich in engen Kurven hinab nach Poschiavo. Reben, Kastanienbäume, Feigen – mediterrane Melancholie mit pastellfarbenen Häusern und dem Duft von Sonne auf Stein. Und plötzlich sagte mein Papa Folgendes: «Ich kann gar nicht aufhören, das alles zu fotografieren. Es ist so wunderschön.» Allein für diesen Satz hat sich die Reise gelohnt.

Die letzten Kilometer führen weiter durch das südliche Puschlav, vorbei an gepflegten Gärten und kleinen Kapellen. In Tirano angekommen, herrscht plötzlich Sommer. Hier spürt man das Dolce Vita: An den Ständen gibt es Glacé und in der Bar Aperol Spritz.

Ich überzeuge meine Eltern davon, dass wir nicht in der Touri-Hotspot Meile Mittagessen wollen und wir laufen 15 Minuten, bis wir eine kleine herzige Trattoria (L’Hostaria Ristorante) finden, die die beste Pizza der Welt serviert (und ich mag eigentlich keine Pizza, doch hier ziehe ich meinen Kochhut).


Highlight: Offene Fenster und Fahrtwind
Bei strahlendem Sonnenschein und mit sensationellem Essen haben wir die Zeit natürlich vergessen und den Zug zurück verpasst. Das grösste Glück, denn unsere Tickets galten ja auch ohne Sitzplatzreservierung. Folglich sind wir über Pontresina nach Samedan, mit der Rhätischen Bahn Richtung St. Moritz und dann abschliessend nach Zürich zurück gefahren.

Die normale rhätische Bahn hat keine extra grosses Fenster, dafür solche, die man öffnen kann. Den Rest der Fahrt habe ich freiwillig stehend am Fenster verbracht, während der sommerliche Wind und später die kalte Gletscherbrise durch meine Haare wehte. Zum Glück haben wir den Zug verpasst, denn diese Zugfahrt hat nochmal eine ganz andere Seite der Schweiz gezeigt.

Plötzlich hatten wir viel mehr Platz, um uns herum waren keine Touristen mehr, sondern neugierige Wandernde und Einheimische. Und: Die Zugfahrt war mindestens genauso schön. Der einzige Nachteil: Ab Samedan sind wir in einem neuen Zug nach Chur gefahren, da kann man die Fenster leider nicht öffnen. Und: Man hält bei viel mehr Stationen. Zeitlich braucht man aber genauso lange, wie mit dem Bernina Express.

Perfekt für alle, die Wandern hassen (oder ins Tessin reisen)
Der Panorama-Wagen des Bernina Express ist eindrucksvoll – aber kein Muss. Die Landschaft wirkt auch ohne XXL-Fenster: eine klare 12 von 10. Ideal für alle, die mit klassischen Outdoor-Abenteuern wenig anfangen können, aber trotzdem tief in die Schweizer Landschaft eintauchen möchten. Oder für jene, die entspannt Richtung Süden rollen wollen, ohne selbst am Steuer zu sitzen. Einsteigen, zurücklehnen – und staunen.
(c) Alle Bilder hat Jenny Wagner bei ihrer Reise gemacht.